Erinnerungen einer Kindheit

Erinnerungen einer Kindheit

In unserem letzten Blog haben wir euch ein bisschen über die Geschichte von Santa Mónica und die Beziehung der Bewohner von Povoação Velha zu diesem Strand erzählt. Nun haben wir mit 2 Einheimischen gesprochen, nicht nur über Santa Mónica, sondern auch wie es war in Povoacao Velha aufzuwachsen.

 

 

Wir sind noch immer bei der Brito-Familie – dieses Mal 2 Brüder.

 

Wir treffen uns in Samuel Brito’s Apartment, wo wir zunächst sehr erstaunt sind über seine reichhaltige Bibliothek. Er begrüßt uns mit einem großen Lächeln und entschuldigt sich bei uns, dass er kein T-Shirt trägt. Aber wir kennen uns schon einige Jahre. Sein 5 Jahre jüngerer Bruder Eleuterio Brito, bekannt als Leu, ist gerade zu Besuch bei Samuel.

 

Sie sind sehr positive Menschen, denen es egal ist, wie sie aufgewachsen sind. Sie sind stolz und fühlen sich vollständig mit dem was sie sind und was sie erreicht haben.

 

 

Beide – vor allem Samuel – sind Männer der Kultur und Literatur. Sie lieben die authentische kapverdische Kultur und auch die Weltliteratur. Samuel sagt, dass die meisten heutzutage Eugenio Tavares nicht mehr kennen und das wäre sehr traurig. Wenn wir in unserer Kultur schwach werden und der Poet tot ist, kommt alles zum Erliegen. Es wäre keine Morna entstanden und der Glaube, dass Morna die Menschen berührt, wäre nostalgisch und sentimental.

 

 

Er erzählt uns eine Geschichte, die er gehört hat über einen Mann der gestorben ist, nachdem er eine Morna gehört hat. Dieser Mann war sehr lange auf See und hat keine Nachrichten aus seinem Heimatland erhalten. Eines Tages, als das Schiff in der Ostsee nahe zur russischen Küste unterwegs war bekamen sie ein Signal einer Radiostation. Diese spielte eine Morna und als der Mann sie hörte und fühlte, erlitt er einen Herzinfarkt.

 

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Samuel zitiert Saramago der sagte: man muss die Insel verlassen, um sie zu sehen. Das bedeutet, man müsste erst weggehen um den Wert dessen zu verstehen, was wir haben.

 

 

Er sagt, dass die kapverdische Kultur sehr schwach geworden ist inzwischen. In Portugal hat ihm mal ein Mann gesagt, dass sein Land eine sehr reichhaltige Kultur hat. Das hat ihn sehr stolz gemacht. Aber heutzutage scheint ein großes Desinteresse ohne Kreativität vorzuherrschen.

 

 

Er gibt uns ein praktisches Bespiel: in Brasilien lernen die Kids zuerst Fußball zu spielen, in Russland dagegen lehrt man ihnen Poesie. Durch Poesie können die Kinder träumen, verstehen und eine Vorstellung vom Leben bekommen. Das ist die Geburtsstunde für Intellektuelle und die Liebe zur Literatur. E sagt Russland ist sehr reich an hervorragender Literatur und nennt uns Beispiele wie Puschkin, Tschekhov, Bakunin, Tolstoi. Er spricht auch über andere weltberühmte Literatur wie Dante, Camoes, Homero und nicht zuletzt auch Eugenio Tavares. Alle diese Schriftsteller finden wir auch in seiner Bibliothek.

 

 

Während unseres Gesprächs läuft im Hintergrund kapverdische Musik. An einer Stelle spielt ein portugiesischer Gitarrist „Sodade“ von Cesaria Evora in einer Konzerthalle und wir hören erstaunt, wie das Publikum anfängt mitzusingen. An dieser Stelle realisieren wir, wie stolz wir doch auf unsere kapverdische Kultur, insbesondere unsere Musik sein können.

 

 

Über ihre Kindheit haben die beiden Brüder Erinnerungen über süße und harte Zeiten. Sie sind in Povoação Velha in einer großen Familie aufgewachsen und wie viele andere kapverdische Familien hatten auch sie Schwierigkeiten. Aber trotzdem hatten sie eine glückliche Kindheit, inmitten von Viehzucht, Landwirtschaft und Fischfang. Sie waren eine der wenigen Familien, von der niemand ins Ausland gegangen ist – somit fehlte finanzielle Unterstützung von Emigranten, wie sie die meisten anderen Familien bekamen. Gerade in Povoação Velha gab es sehr viele Familien mit Emigranten. Aber ihr Vater ist ein sehr stolzer Mann, der immer eine Arbeit fand, um seine Familie zu versorgen – ein Rund-Um-Handwerker, ein Tausendsassa.

 

 

Keine Elektrizität, kein fließendes Wasser, immer barfuß und das Bett teilte man sich mit mindestens zwei anderen Geschwistern.

 

 

Samuel ist sehr stolz darauf in Povoação Velha, der ältesten Ortschaft von Boa Vista, geboren zu sein. Hier ist auch die Geburtsstätte der berühmten „Morna“. Es ist ein Dorf von Seefahrern, einige von ihnen waren große Kapitäne von Segelschiffen.

 

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Povoação Velha

Leu gibt uns eine kurze Zusammenfassung vom Leben seines Vaters, der immer noch lebt (Gott sei Dank, wie beide gleichzeitig sagen). Er wäre mal fast zum Waisenkind geworden, war dann als Matrose auf Segelschiffen zwischen den Inseln unterwegs. Als er einmal nach Angola kam, war er dem Tot so nahe das er beschloss, die Seefahrt wieder aufzugeben und in seine Heimat zurück zu kehren und ein neues Leben zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Brüder noch nicht geboren.

 

 

Samuel sagt, das Leben heute auf den Kapverden hat sich sehr verändert. Das Leben früher war sehr viel härter – viele jungen Menschen haben heute gar keine Vorstellung mehr davon, wie schwer es teilweise war.

 

Sie mussten viele Kilometer laufen, um Wasser zu beschaffen. Lange vor Sonnenaufgang gingen sie bereits los um möglichst die ersten an der Wasserstelle zu sein, denn der Tag hatte noch viele andere Aufgaben für sie. Aber Wasser zu holen war die erste Priorität des Tages.

 

 

Leu erinnert sich daran, wie er das erste Mal mit seinem Vater zum Fischen ging in Varandinha. Am Tag zuvor musste er an Land üben, verschiedene Gegenstände mit einer Schnur zu fangen. Nachts hatte er so viel Angst, dass er nicht schlafen konnte. Bereits vor Sonnenaufgang sollte es losgehen und er hoffte, dass das Wetter gut ist, denn sonst würden sie nicht fischen gehen. Für ein Kind war das ein großes Abenteuer. Es war sehr anstrengend für ihn und als sie wieder zu Hause waren, ging er direkt schlafen. Für ihn war es lustig und erschöpfend – für seinen Vater ein Weg, die Familie zu ernähren. Es wurde immer erwartet, dass sein Vater genügend Fisch nach Hause bringt, denn sie waren eine große Familie mit 8 Kindern.

 

 

Samuel erzählt nun weiter über die Angelausflüge nach Santa Mónica. Was heute eine Attraktion für Touristen ist, war damals die Lebensgrundlage für die Menschen von Povoação Velha.

 

Die Angelausflüge wurden für das ganze Dorf organisiert – mindestens ein Mitglied von jeder Familie musste mitgehen. Einen Tag vorher wurde es im ganzen Dorf bekannt gegeben. Es war Teamwork des ganzen Dorfes mit den Netzen die Pompano Fische zu fangen. Im Anschluss wurde der Fang gleichmäßig unter allen anwesenden Familien aufgeteilt.

 

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Praia de Varandinha

Samuel erzählt uns von 2 Auswanderungswellen. Die erste führte die Menschen nach Nord-Amerika, die meisten auf die Walfänger-Boote. Die zweite Welle führte die Menschen nach Europa. Die erste Welle wurde noch als sentimental und poetisch empfunden. Die zweite Welle allerdings brachte große soziale Unterschiede zwischen den Einheimischen und störte das Wachstum des Dorfes, weil auch sehr viele junge Menschen weg gegangen sind.

 

 

Sie erinnern sich, dass sie bereits Teenager waren, als sie das erste Mal Schuhe besaßen. Die erste Priorität lag nun mal darin, genügend Essen für die Familie zu haben. Trotzdem waren sie sehr froh, eine ordentliche Bildung erhalten zu haben inmitten der Schwierigkeiten. Sie waren sich bewusst wie, schwer es für ihre Eltern war mit so wenig Mitteln auszukommen. Deshalb ergriffen sie  die Chance eine Ausbildung zu erhalten, mit vollem Einsatz, denn das war das Mindeste was sie tun konnten um die Bemühungen ihrer Eltern zu ehren.  In der Schule faul zu sein und keine guten Noten zu erhalten war unvorstellbar für sie und es würde definitiv hart bestraft werden.

 

 

Sie wissen das, obwohl sie in großen Schwierigkeiten aufgewachsen sind, sie in der Gesellschaft nicht wirklich akzeptiert wurden. Wegen ihres familiären Hintergrunds und der schlechten Lebensbedingungen wurden sie ausgeschlossen – aber das hat sie zu den Menschen gemacht, die sie heute sind.

 

 

Samuel zitiert Dostojewski der sagte: hinter jedem großen Mann steht auch immer ein großer Schmerz.

 

 

Sie haben die wichtigsten Prinzipien gelernt: demütig zu sein, kein Mensch ist mehr wert als ein Anderer, sie verstehen, dass das Leben hart ist, sie solidarisieren sich, wenn andere Menschen in Schwierigkeiten sind, denn sie haben es genauso gelernt. Trotzdem betont er nochmals, dass sie glücklich aufgewachsen sind.

 

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Ziegen auf Boa Vista

Die Schulsommerferien wurden immer mit dem Auftauchen von selbst hergestelltem Spielzeug angekündigt: vorwiegend kleine Autos und Boote die aus alten Dosen oder Holz hergestellt waren. In der Regenzeit ging man in die Lagune schwimmen und brachte die kleinen Boote mit.

 

 

Sie stahlen Holz und Werkzeug von ihrem Vater und entpuppten sich als echte Künstler beim Herstellen von kleinen Booten, denen sie auch Namen gaben wie „Porto Novo“ oder „Oleamba“. Leider verschwanden solche Spielzeuge mit dem Wandel der Zeit, ihrer Meinung nach sollten sie erhalten bleiben. Viele gute Erinnerungen:  im Dreck gespielt, barfuß gelaufen, manchmal von Dornen zerkratzt, Fußballspielen natürlich auch barfuß. Nicht zu vergessen die Abendspiele nach Sonnenuntergang: Verstecken, Polizei gegen Diebe, Esel reiten und vieles mehr.

 

 

Über ihre Eltern finden sie kaum Worte um sie zu beschreiben: sehr beschützend und freundlich zu ihren Kindern. Obwohl es viele Barrieren gab haben sie alles getan, um ihre Kinder auf einem guten Weg zu sehen. Nur durch den starken Rückhalt und die Ausdauer sind sie in der Lage ein Leben zu haben, wie sie es jetzt führen. Sie sind sehr stolz und glücklich, dass ihre Eltern immer nach gesund und am Leben sind.

 

 

Etwas was sie auch nie vergessen sind die katholischen, heiligen Feste.  Es war Tradition von Haus zu Haus zu gehen und um einen Anteil für das Fest zu bitten. Sie sagen, es war wie so eine Art „Halloween-Ding“ nur das man nicht um Süßigkeiten bat, sondern um Geld damit man etwas für das Fest hatte. Es war nicht viel Geld, reichte aber um etwas Freude zu bereiten.

 

 

Eine weitere Tradition gab es am Silvesterabend: die Kinder gingen von Haus zu Haus und sangen traditionelle Silvesterlieder – als Belohnung gab es Kuchen, alkoholfreie Getränke, frische Produkte wie Mais, Bohnen und Wassermelonen oder auch Fleisch. Dies wurde genutzt um nach dem Silvesterfest ein Familienessen zuzubereiten, meistens etwas Traditionelles wie z.B. Catchupa. Die Erwachsenen taten in der Nacht dasselbe wie die Kinder zuvor, nur sie wollten für ihren Gesang mit Geld belohnt werden.

 

 

Sie haben aber auch beängstigende Episoden nicht vergessen: Wenn jemand im Dorf starb, war es eine sehr harte Zeit für alle, denn jeder kannte jeden. Den Kindern war es nicht erlaubt, nah an das Haus des Verstorbenen zu kommen, die älteren Menschen machten ihnen auch Angst, wenn sie es doch versuchten. Nach solchen Ereignissen konnten sie manchmal nächtelang nicht schlafen, da sie glaubten die Toten würden kommen und ihre Träume stehlen. Während die Kinder nicht zum Haus des Verstorbenen gehen durften, waren die Erwachsenen nach so einem Ereignis einige Tage und Nächte ständig dort. Die Dorfbewohner wechselten sich in Schichten ab, um die Familie in ihrem Kummer zu unterstützen. Nachbarn, Freunde und Familienangehörige schlossen sich zusammen und erwiesen einander Respekt. Sie hatten das Gefühl, dass dies das Mindeste war, um das Andenken an den Verstorbenen zu ehren.

 

 

Wenn die Kinder im Dunkeln zum Wasser holen nah am Friedhof vorbei gehen mussten, war es das Schlimmste für sie – sie hatten ein regelrechtes Trauma.

 

 

Wir könnten die ganze Nacht hier bleiben und ihren Erzählungen zuhören über Literatur, Musik und Kultur. Ein gemütlicher Ort, perfekt für Bücherliebhaber. Samuel sagt, dass er von 100 weltweiten Klassikern mindestens 1/3 bereits besitzt und er hofft die Chance zu bekommen, auch die anderen 2/3 noch zu erwerben. Er ist sehr stolz darauf Dichter und Sprachwissenschaftler zu sein und als Gastgeber an kulturellen Veranstaltungen wie z.B. dem Festival der Morna teilzunehmen.

 

 

Er möchte gern seine Hochschulausbildung fortsetzen und weiterhin seiner Leidenschaft für Literatur und Kultur nachgehen. Wir werden bestimmt noch einmal für ein weiteres Gespräch wieder kommen. Es fühlt sich gut an, wenn jemand solche Erinnerungen mit uns teilt.

 

Interview: Misael

Text: Andrea

 

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